Mauern

 

Sie wusste nicht, warum sie an der verwitterten Mauer entlang ging. Als hätte die Mauer sie gerufen. Neugierig kletterte sie hinauf. Die Mauer war nur knapp höher als sie und bot genügend Vorsprünge, an denen sie sich festhalten konnte.

Oben angekommen, stellte sie sich auf die breiten Steine und schaute auf eine zweite Mauer, gerade so hoch, dass sie nicht hinüberschauen konnte, und zu weit entfernt, um hinüber zu springen. Sie sprang in den dazwischenliegenden Graben und folgte ihm eine Weile. Gras streichelte ihre Fußknöchel, Bienen summten eilig an ihr vorbei.

Sie fand eine geeignete Stelle und kletterte auf die zweite Mauer hinauf. Wieder fand sie eine knapp höhere Mauer dahinter vor. Sie sprang in den Raum dazwischen und ging interessiert an der dritten Mauer entlang, als die Erde zu beben begann. Sie wurde gegen die Steine geworfen und fiel ins Gras, das hier nicht ganz so hoch stand. Das Beben dauerte nicht lang. Verunsichert stand sie auf und ging weiter.

Sie griff nach hervorstehenden Steinen und bestieg die dritte Mauer, um eine vierte, noch höhere zu entdecken. Der Tag versank in der Abenddämmerung. Sie kletterte über die dritte Mauer hinüber in den dahinterliegenden Zwischenraum. Sie folgte seinem leichtgeschwungenem Weg. Nach einigen Minuten fand sie eine Schlafstatt und etwas zu essen. Wenig später schlief sie ein.

Durch ein weiteres Erdbeben wurde sie geweckt. Nicht weit fielen Steinblöcke zu Boden. Aber noch ehe sie richtig wach war, verstummte das Grollen. Sie frühstückte und folgte der nächsten Mauer, bis sie ihr zum Besteigen geeignet erschien. Sie griff nach dem ersten Vorsprung und spürte ihre Muskeln vom Vortag schmerzen. Trotzdem zog sie sich an der Mauer empor, die etwas mehr als vier Meter hoch war. Oben angelangt schien die Sonne auf eine fünfte wiederum höhere Mauer. Sie stieg vorsichtig auf der anderen Seite hinunter, durchquerte den Zwischenraum und begann sofort mit dem Aufstieg. Als sie fast oben war, brannte die Sonne heiß auf ihren nassgeschwitzten Rücken. Sie erreichte das Mauerende und blieb eine Weile darauf liegen. Vor dem Sonnenuntergang wollte sie noch die nächste Mauer überwinden.

Nachdem ihre Kleidung getrocknet und sie wieder zu Atem gekommen war, suchte sie eine günstige Stelle für den Abstieg. Sie schätzte die Höhe auf über zehn Meter. Auf- und Abstieg waren nun gefährlich.

Die Erde zwischen diesen beiden Mauern sah wie frisch eingesät aus. Das erste Grün reckte sich dem Licht entgegen.

Auf der siebten Mauer bemerkte sie die Blasen an ihren Händen. Sie versuchte sich mit Streifen ihres Hemdes zu helfen und stieg die achte Mauer im Rücken der Erde entgegen. Sie hatte den Boden fast erreicht, als sie von einem weiteren Beben überrascht wurde und abrutschte. Mit einem dumpfen Schlag landete sie im Staub des Grabens. Mauersteine schlugen hart neben ihr auf. Sie drückte sich gegen die Wand und hielt die Hände schützend über den Kopf. Doch schon war es ruhig.

Sie rieb sich das Hinterteil, ihre Hose war an den Knien vom Klettern durchgescheuert und ein Teil der Blasen war aufgerissen. Schimpfend wanderte sie zwischen den Mauern bis sie wieder etwas zu essen und Decken fand. Sogar Verbandszeug lag bei den Nahrungsmitteln. Doch sie wickelte sich erschöpft in die Decken und schlief sofort ein.

Der nächste Tag brachte Nebel und leichten Regen. Sie verband ihre Hände, frühstückte und begann die achte Mauer hinaufzuklettern. Es musste gegen Mittag sein, als sie auf der neunten stand. Der Nebel war zu dicht, um etwas zu sehen. Schlecht gelaunt stieg sie hinunter. Der Boden war aufgeweicht.

Die zehnte Mauer erkletterte sie fast blind, so dick war der Nebel. Ihre Schuhe waren durchgelaufen. Sie zog sie aus und warf sie in den Abgrund hinter sich. Barfuß auf dem kalten Stein hangelte sie sich zu Boden. Der Schlamm reichte ihr weit über die Knöchel. Schon wollte sie Hoffnung schöpfen, weil sie die nächste Mauer nicht wie üblich nach wenigen Schritten erreichte, da trat sie aus dem Nebel ins Sonnenlicht und sah vor sich eine Mauer, die fast doppelt so hoch war wie die letzte. Entmutigt schüttelte sie den Kopf und setzte sich. Das Beben an diesem Tag erlebte sie in sicherem Abstand von den Mauern. In einiger Entfernung entdeckte sie Decke und Nahrung. Dann wurde es Nacht.

Schlaflos blickte sie zu den Sternen und fragte sich, warum sie begonnen hatte, über die Mauern zu klettern, und warum sie sicher war, mit dem Morgengrauen die Mauer vor sich in Angriff zu nehmen. Auch fragte sie sich, wer oder was ihr Decken und Nahrung bereitlegte und was sie erwarten würde, wenn sie die letzte Mauer überwunden hatte.

In den folgenden Tagen und Wochen stellte sie sich diese Fragen oft. Nie zweifelte sie daran, eines Tages die letzte Mauer zu überwinden. Täglich gab es Erdbeben, aber mit der Zeit wurde sie stark. Selbst das Beben hinderte sie nicht am Weiterklettern. Mit Hornhaut an Händen und Füßen kletterte sie durch die Zeit. Unermüdlich und mit wachsender Geschicklichkeit bezwang sie Stein für Stein, Mauer für Mauer. Irgendwann fiel ihr auf, dass die Mauern ringförmig um eine Mitte lagen. Die Ringe wurden von Mauer zu Mauer enger.

Eines Tages stand sie im Dunkel auf dem Boden. Längst erreichte das Tageslicht nicht mehr den Grund der Mauerschluchten. Sie spürte Schneeflocken kalt auf ihrer Haut. Sie wusste, dass sie die letzte Mauer vor sich hatte. Ihre geübten Hände suchten in der Finsternis nach Haltepunkten und zogen sie langsam in die Höhe. Stunden später erreichte sie die Zone des Zwielichts, das es den Augen leichter machte, die nächsten Griffe zu planen. Sie blickte auf das schwindende Tageslicht. Bevor sie auf der Mauer einschlief, erinnerte der innere Kreis sie an einen Brunnen.

Der Sonnenaufgang wärmte ihre nachtsteifen Glieder. Sie öffnete die Augen und blickte auf all die Mauern, die sie überwunden hatte. Das Bild erstreckte sich weit über den Horizont hinaus.

Seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr zu essen gefunden. Ihr Magen knurrte ungeduldig. Sie schaute hinunter in den Schacht, doch er war zu tief und zu dunkel, um etwas zu erkennen. Sie suchte die günstigste Stelle aus und ließ sich an die Innenseite gleiten, um Griff für Griff und Schritt für Schritt in die Dunkelheit zu steigen. Da begann das tägliche Beben. Sie klammerte sich an die Steine und spürte, wie die Mauer sie in die Höhe trug. Jetzt fiel ihr auch auf, dass die Mauer über Nacht doppelt so breit geworden war. Berstend zitterte es unter ihrem Körper. Der innere Teil teilte sich und wuchs in die Höhe. Das alles ging so schnell, dass es vorbei war, bevor sie es richtig verstanden hatte.

Sie setzte ihren Abstieg fort. Sie verließ den Bereich des Lichts, die Zone der Grauwerte und verschwand in der Dunkelheit des Schachts.

Einige Stunden kletterte sie schon in totaler Finsternis, als sie unter sich ein Licht zu sehen glaubte. Sie rief etwas, doch niemand antwortete.

Ganz unerwartet erreichte sie das Ende des Schachts. Zuerst erschrak sie, als sie mit dem Fuß die Wasseroberfläche berührte, doch dann stieg sie vorsichtig tiefer in das nachtschwarze Wasser. Sie sah das Licht. Es rührte von einer winzigen Laterne her, die ein kleines Holzfloß beleuchtete. Sie musste sehr genau hinsehen, ehe sie hinter einem Fensterchen des Holzhäuschens ein Gesicht erkannte.

Hässlich, dachte sie, doch grüßte sie freundlich, weil sie aus der Häßlichkeit zwei lebendige Äuglein anstrahlten. Sie wagte kaum zu atmen, da jeder Atemzug das Floß zum Kentern bringen konnte.

Es dauerte etwas, bis das hässliche Wesen sich aus seiner Behausung traute. Es kam ihr bekannt vor.

Stinkender, grauer Schleim tropfte von seiner Hand, als sie ihm zur Begrüßung den kleinen Finger reichte, der trotzdem noch zu riesig war.

Doch in dem Augenblick, in dem sie sich berührten, floss Wärme und Schönheit durch sie. Sie sah das hässliche Wesen wachsen und aufblühen und sie selbst spürte erschrocken, dass sie schrumpfte.

Als sie die gleiche Größe hatten, wuchsen sie zusammen, Hand in Hand. Bald waren sie zu groß für den Schacht und sprengten ihn mit einem Atemzug. Wie Dominosteine fielen die Mauern um bis weit über den Horizont hinaus.

Sonne und Regen ließen innerhalb weniger Augenblicke die Steine verwittern. Wind blies Erde und Samen über das Land, Regen und Sonne ließen alles wachsen. Der Wind stürmte einen Weg durch den entstandenen Wald. Vögel sangen und Bienen summten eilig an ihnen vorbei, als sie Hand in Hand spazieren gingen.